Stunde der Testamentseröffnung
Ein Abendessen unter Freunden. Die Stimmung ist gut, der Wein auch. Man ist heiter und ausgelassen. Nur einer weiß, dass dies sein letzter Abend unter den Freunden ist. Sein letzter Abend vor dem Tod. Und er teilt den Freunden sein Vermächtnis mit. Dieser zeitlos dramatischen Geschichte gedenken die Christen am Gründonnerstag. Im Augsburger Dom wusch Bischof Dr. Bertram Meier zwölf Gläubigen die Füße, so wie es Jesus beim letzten Abendmahl getan hatte. Und er machte den Anwesenden klar, dass das Geschehen von damals auch heute uns alle angeht: „Wir sind es, die mit dem Herrn beim Abendmahl sitzen."
„Wenn ein Mensch spürt“, so Bischof Bertram in seiner Predigt, „dass seine Stunde kommt, da er für lange Zeit oder für immer Abschied nehmen muss, dann lässt er seine Familie und seine Freunde noch einmal zusammenrufen. Und in dieser Stunde versucht er, den Menschen seines Vertrauens in aller Dichte noch einmal das mitzuteilen, was ihm selbst im Leben wichtig und wesentlich war. Die heutige Stunde ist eine Stunde des Abschieds: kein Abschied mit leeren Händen, ein Abschied mit vollen Herzen: die Stunde einer Testamentseröffnung. 'Tut dies zu meinem Gedächtnis.' Heute Abend wird das Neue Testament eröffnet, und ich darf Ihnen versichern: Keiner wird leer ausgehen. Jeder ist zum Erben bestellt. Doch das Testament fordert mutige Erben, keine Nachlassverwalter, sondern Zukunftsbereiter.“
Das erste Vermächtnis in Jesu Testament sei der "Mut zum Dienen", der in der Fußwaschung, vor 2.000 Jahren ein Sklavendienst, sichtbar werde. Bischof Bertram: „Hochnäsige waschen den anderen lieber den Kopf als die Füße. Jesus hat den Mut, diese Ordnung umzukehren. Das 'Sichbeugen' zum Sklavendienst ist Zeichen seiner Freiheit. Jesus hatte den Mut zum Dienen. Er ist heruntergestiegen, auf die unterste Stufe. Er bückt sich tief nach unten, tiefer als die Jünger stehen oder sitzen. Das hat Konsequenzen für unseren Mut zum Dienen. Wir erwarten Jesus oft irgendwo oben im Himmel, und wir finden ihn unten auf dem Boden. Er ist nicht auf dem ersten, sondern auf dem letzten Platz, und das nicht nur auf Zeit! Der letzte Platz ist der Platz seines Lebens. Jesus lässt das Unterste und Niedrigste nicht unerledigt. Er ist sich für nichts zu schade. Sein Mut zum Dienen geht bis zum Kreuz.“
Doch auch der Mut, sich bedienen zu lassen, gehöre zum Testament Jesu, so Bischof Bertram weiter: „Gemeinschaft entsteht durch Geben, aber auch durch Nehmen. Denn niemand von uns kann alles geben. Keiner ist das Universalgenie, keiner ein Tausendsassa. Wir brauchen voreinander nicht Theater spielen. Wir dürfen auch bereit sein, uns – im rechten Sinn – bedienen zu lassen: Mut, sich bedienen zu lassen, das heißt sich selbst und anderen einzugestehen: 'Ich brauche dich. Bei dir kann ich mich aussprechen. Von dir kann ich zehren. Du tankst mich auf.' Oder mit dem heiligen Papst Johannes XXIII. gesprochen: 'Nimm dich selbst nicht so wichtig! Lass zu, dass auch andere dich mittragen auf deinem Weg!' Eine solche Einstellung wirkt entlastend."
Der Mut zum Dienen und der Mut, sich bedienen zu lassen - beides verweise auf eine Ebene, die tiefer liege. In der Stunde am Kreuz werde sie offenbar: Der Mut, sich ganz hinzugeben. Bischof Bertram: „Sich hingeben an einen Menschen, an Gott: Wie leicht ist es dahingesagt und wie viel wird dabei gelitten! Wer es ernst meint mit der Hingabe, dem bleibt auch die Verwundung nicht erspart. Nicht umsonst ist einer der tiefsten Schmerzen der Liebeskummer. Wer Zuneigung und Liebe will, muss gleichzeitig die eigene Verwundung zulassen. Anders geht es nicht. Sonst ist die Liebe nicht echt. Und weil das Christentum so viel von Liebe spricht, muss es auch so viel von Verwundung reden. Es verbirgt die Achillesferse nicht, wie in den alten Mythen der Unbezwingbarkeit; es lässt die Wunde zu und zeigt sie. Mehr noch: Ohne Wunden wird man gar nicht richtig Mensch.“
Bischof Bertram erinnerte daran, dass die Jünger der Überlieferung nach am Ölberg geschlafen haben, während Jesus mit seinem Schicksal rang: "Der Herr soll uns nicht schlafend antreffen. Auch in dieser Kirche wollen wir heute Nacht mit ihm wachen und beten...Ihr seid meine Freunde, sagt Jesus uns an diesem Abend, in dieser Stunde, die seine Stunde ist: die Stunde des Testaments, seine Stunde für uns. Machen wir unser Herz weit, damit es auch unsere Stunde wird für ihn.“
Nach der Predigt machte Bischof Bertram es Jesus nach und wusch - im Jahr des Ulrichsjubiläums - zwölf Männern und Frauen, die aus verschiedenen Ulrichskirchen des Bistums stammen, die Füße. Am Ende des Gottesdienstes wurde das Allerheiligste in einer feierlichen Prozession zum Sakramentsaltar übertragen. Der Auszug aus dem Gottesdienst verlief in Stille. Die letzten Stunden Jesu sind angebrochen.