„Ehrfurcht ist das Herz der Liebe“
Für Bischof Bertram ist es das „Oberammergau des Lechrains“ – der kleine Ort Vilgertshofen südlich von Landsberg, in dem jedes Jahr am Sonntag nach Mariä Himmelfahrt ein Bruderschaftsfest mit anschließender „Stummer Prozession“ abgehalten wird. Dem schlechten Wetter trotzend sprach der Bischof als diesjähriger Festprediger darüber, wie „Glauben“ und „Geheimnis“ zusammengehören.
Im „Ineinander von Menschheit und Göttlichkeit“ werde letztendlich ein Geheimnis offenbar, das vom Menschen nicht bis ins Letzte ergründbar sei und an dem sich gerade in der frühen Kirche heftige Debatten entzündet hätten. In Jesus Christus ist Gott Mensch geworden: „Das ist ein Geheimnis, das wir gar nicht genug betrachten können!“, so der Bischof in seiner Predigt. Und doch müsse es letztendlich ein Geheimnis bleiben, müsse man „dem nahen Gott das Geheimnis seiner Ferne zu lassen“ – eine Einstellung und Haltung, die kaum mehr praktiziert werde, und deren Name sich schon nur noch in religiösen und poetischen Texten finden lasse: die Ehrfurcht.
Doch achte ein ehrfürchtiger Mensch nicht nur das Geheimnis des Göttlichen, sondern allen Lebens, betonte Bischof Bertram weiter. Dieser Mensch habe dann verstanden, „dass nichts für sich bestehen kann, sondern alles mit allem in Beziehung steht.“ Damit sei Ehrfurcht letztendlich auch das „Herz der Liebe“, setzten zwischenmenschliche Beziehungen doch auch voraus, dass man um die Geheimnisse des Anderen wisse und sie achte. Im Umkehrschluss sei eine Welt ohne Ehrfurcht vor Gott und dem Nächsten eine kalte und grausame, aufgezeigt in der Tortur Jesu und „bis heute furchtbare Gegenwart in vielen Gefängnissen und Folterkellern unserer Welt.“
Insofern sei es passend, dass in der „Stummen Prozession“ die Passion Jesu so plastisch vor Augen geführt werde: „Heute sehen wir ein Passionsspiel. Für mich ist Vilgertshofen das Oberammergau des Lechrains“, so der Bischof, der bereits als junger Seminarist zum ersten Mal in den Wallfahrtsort gekommen war, wo er sein Sozialpraktikum absolvierte. Über das „Mitleiden mit Christus“ lasse sich auch die Ehrfurcht vor ihm und vor den Mitmenschen neu einüben, wie es bereits die Muttergottes gezeigt habe: „Sie glaubte an die Verheißung, die ihr einst der Engel Gabriel mitgeteilt hatte, und blieb ausgerichtet auf den Willen Gottes, auch dann, als sie ihn nicht mehr verstand“ und zeigte damit Zuversicht, ein Wort, das noch zu Zeiten des heiligen Bischofs und Vilgertshofer Kirchenpatrons Ulrich noch ganz anders verstanden wurde: als „ehrfurchtsvolles Aufschauen und Hoffen“.
Normalerweise wären im Anschluss an das Pontifikalamt der Bischof und die Pfarrgemeinde mit der Bruderschaft zur „Stummen Prozession“ angetreten: In diesem vielleicht letzten Beispiel einer erhalten gebliebenen volkstümlichen Barockprozession in Bayern marschieren rund 150 Kinder und Jugendliche, Männer und Frauen durch den Ort und stellen als „lebende Figuren“ Szenen aus dem Alten und Neuen Testament sowie sie begleitende Engeln, Pagen und Blumenmädchen dar. Aufgrund des starken Regenfalls musste an diesem Sonntag allerdings auf die Prozession verzichtet werden – für den Bischof nach einem ebenfalls prozessionslosen Besuch in Vilgertshofen während der Pandemiezeit und eben dem heutigen Sonntag ein Grund, es in ein paar Jahren gerne noch einmal versuchen zu wollen. Immerhin: Ein Teil der besonderen Atmosphäre dieses fast dreihundertjährigen Brauchrums war trotz des Wetters präsent: Genauso sehr wie die biblischen Darstellungen oder das marianische Gnadenbild der Vilgertshofer Bruderschaft gehören nämlich auch zahlreiche Stände und Imbissbuden entlang der Prozessionsroute zur Tradition.
Die Bruderschaft zur Schmerzhaften Muttergottes wurde 1708 in Vilgertshofen gegründet und hielt 1730 zum ersten Mal eine Prozession zu Ehren Jesu und der Muttergottes statt, bei der damals noch bildliche Darstellungen der Passion Christi mitgeführt wurden. Nach einem rund dreißigjährigen Verbot in der Mitte des 19. Jahrhunderts, währenddessen der Brauch im Verborgenen fortgeführt wurde, ging man in den 1870er Jahren dazu über, nach Oberammergauer Vorbild die biblischen Szenen durch echte Menschen präsentieren zu lassen. Der Name der Prozession ergibt sich daraus, dass während des Umzugs keine Lieder gesungen oder Gebete gesprochen werden.